Ökohysterisch – und das ist auch gut so!

Miriam Meissner

Klimahysterie wurde vor Kurzem zum Unwort des Jahres 2019 gekürt. Obwohl in der Fachsprache veraltet, werde der Begriff missbraucht, um KlimaschützerInnen zu diffamieren – sie als nervenschwach und aufbrausend abzustempeln. Daher ein Unwort. Trotzdem wird Umweltschützer und -aktivistInnen auch weiterhin Übertreibung unterstellt. Was also tun?

„Jetzt lass uns mal nicht Teufel an die Wand malen!“; „Meinst du nicht, du steigerst dich da in etwas hinein?“; „Vor zwanzig Jahren haben alle vom Ozonloch und sauren Regen geredet, und das war letztlich alles auch nicht so schlimm…“ Wer kennt diese und ähnliche Kommentare nicht? Impliziert ist oft (wenn auch nicht immer) folgender Vorwurf: Man übertreibe, sei Panikmacher, Klimahysteriker, Anhänger einer apokalyptischen Ökosekte, oder einfach nur etwas zu grün und naiv. Ein nervender Gutmensch eben.

Wer lässt das gerne auf sich sitzen? Man geht also in die Defensive. Zitiert den letzten IPCC Sonderbericht, oder den globalen Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES, oder David Wallace Wells, oder, oder, oder… Die meisten UmweltschützerInnen haben sich enormes Wissen angeeignet. Sie können mit Zahlen und Fakten erklären, warum sie sich so sorgen und warum es unverzichtbar ist, gemeinsam heute – nicht erst morgen – für unseren Planeten (d.h. uns alle!) in die Hufe zu kommen. Das Problem: Der oder die Gegenüber will das oft gar nicht hören. Auf der einen Seite fühlt sich unser Gegenüber vielleicht auf unsicherem Terrain, denn – seien wir ehrlich – die Mehrheit unserer MitbürgerInnen weiß gar nicht, was der IPCC ist (was sie nicht davon abhält andere, die sich besser auskennen, der Hysterie zu bezichtigen…). Auf der anderen Seite werden wissenschaftliche Studien gerne missbraucht und es herrscht Unsicherheit darüber, was nun glaubwürdig ist und was nicht. Meine Empfehlung daher: Spart euch die Fakten für später und arbeitet stattdessen erst mit einem Sinnbild:

Stell dir vor…

…du bist mit Freunden beim Konzert. Es war schwierig und irre teuer, Tickets zu erstehen. Ihr sitzt also im lang ersehnten Konzert. Mitten in der Show fällt einer Frau auf der gegenüberliegenden Tribüne etwas auf. Es scheint ihr, es rieche nach Gas. Schnell das Smartphone raus und googeln: Wie riecht Gas? Angeblich faulig und schweflig. So riecht es hier! Allerdings, wäre das dem Sicherheitspersonal nicht auch schon aufgefallen? Frau geht also herüber zum Ordner und fragt: „Riecht es hier nach Gas?“ Der Ordner sagt, er rieche das auch, habe schon über Funk bei der Veranstaltungsleitung nachgefragt, und angeblich sei alles in Ordnung. Sie hätten das wahrscheinlich im Griff. The Show must go on. Kein Grund zur Sorge. Die Frau solle sich wieder hinsetzen. Sie stehe hier im Weg.

Frau geht also zurück, aber denkt sich: Was heißt denn hier „wahrscheinlich im Griff“? Gas bedeutet Explosionsgefahr, oder etwa nicht?! Und sie ist hier mit Kindern… Sie spricht also einen Mann in der Reihe vor ihr an. Der ist genervt. Er rieche das zwar, aber man solle mal nicht den Teufel an die Wand malen. Überhaupt habe er teuer für die Show bezahlt und wolle sie nun sehen! Plötzlich mischt sich der Sitznachbar von links ein. Der Geruch sei eindeutig Gas und es bestehe in der Tat Explosionsgefahr! Man könne nicht genau sagen, wann und wie stark die Explosion ausfiele, aber das Risiko sei klar gegeben. Er sei Wissenschaftler – Chemiker – und kenne sich aus. Er verstehe nicht, warum die Veranstaltungsleitung das Konzert nicht vorerst abbreche… Das ganze Gequatsche wird nun den umliegenden Konzertbesuchern zu bunt. Von allen Seiten rufen die Leute ‘Shhhhh….haltet die Klappe!’. Die Frau und ihr Nachbar von links haben nun drei Optionen:

Option 1: Sie verlassen still das Konzert. – Leider kann der Klimakrise keiner individuell entfliehen. Klammern wir Option 1 also aus.

Option 2: Sie passen sich dem Gruppenzwang an, halten wie erwartet die Klappe und versuchen, die Show zu genießen.

Option 3: Sie rufen in einem stillen Moment so laut sie können: „Explosionsgefahr! Verlasst das Gebäude!“ Sie rufen so laut, dass selbst Ihr auf der gegenüberliegenden Tribüne es mitbekommt. Ihr fragt euch kurz, ob sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt, macht euch dann aber doch auf in Richtung Notausgang. Better safe than sorry!

Findet nun kurze Zeit später tatsächlich eine große Explosion statt, dann ist klar was passiert: Sollten sich Frau und Sitznachbar dafür entschieden haben zu schweigen, dann überleben sie, ihre Kinder und viele andere nicht. Sollten sie sich entschieden haben, Alarm zu schlagen, dann überleben sie. Die Konzertveranstaltungsleitung wird auf Fahrlässigkeit verklagt. Die, die im Konzert noch nichts vom Gasgeruch wissen wollten, werden das Nichtstun der Veranstaltungsleitung im Nachhinein schwer verurteilen. Die Veranstaltungsleitung wiederum wird aussagen, dass es kostspielig sei ein Konzert abzubrechen, die Faktenlage unklar war, und überhaupt Besucher selbst dafür zuständig seien, bei verdächtigen Gerüchen eigenverantwortlich zu handeln…

Findet keine oder eine kleine Explosion statt, dann sieht die Situation anders aus. Sollten sich Frau und Nachbar dafür entschieden haben, zu schweigen, dann werden sie nach Hause gehen mit dem Gefühl, es sei ja nochmal alles gut gegangen. Trotzdem plagt sie möglicherweise der Selbstvorwurf, in Schlüsselsituationen keinen Mut zu haben, sondern stattdessen dem Gruppenzwang nachzugeben. Das nagt unterbewusst an der Selbstachtung. Sollten sie sich dafür entschieden haben, Alarm zu schlagen, dann werden sie von ignoranten Mitbürgern im Nachhinein vielleicht als hysterische Störenfriede abgestempelt. Aber was hältst du von ihnen?

Wen respektierst du mehr?

Die, die bei Rauch lieber einmal zu viel „Feuer!“ schreien? Oder die, die sich im Zweifelsfall lieber anpassen? Ich jedenfalls respektiere das lieber-einmal-zu-viel-den-Mund-aufmachen bei weitem mehr als das Vermögen, brav mitzulaufen und blindgläubig darauf zu warten, dass „die Veranstaltungsleitung“ das schon regelt – oder auch nicht.  

In Köln gab es in den 90ern die Kampagne „Arsch huh – Zäng ussenander!“ (Arsch hoch, Zähne auseinander). Es ging darum, sich zu Zivilcourage zu trauen. Damals wurde die Stimme erhoben gegen Rassismus und Neonazismus, was weiterhin ein verdammt guter Grund ist, den Hintern hochzukriegen! Gleichzeitig müssen wir uns vergegenwärtigen, dass beim Klimawandel und Artensterben tatsächlich ALLES auf dem Spiel steht.

Wenn es um die bald voraussichtlich irreversible Vernichtung unserer Lebensgrundlagen, der unserer Kinder und der vieler anderer Spezies geht, dann gilt für mich auch im Zweifelsfalle lieber 1000x zu oft hysterisch den Allerwertesten hoch und Zähne auseinander als 1x zu wenig!

Anders gesagt: Wenn ökohysterisch bedeutet bei mutmaßlicher Lebensgefahr den Alarm zu schlagen, dann ist ökohysterisch eben gut so.

Und solltest du doch noch Fakten zitieren wollen…

…dann schlage ich folgende vor. Bei den zitierten Studien handelt es sich entweder um Berichte zwischenstaatlicher Forschungsgremien (wie beispielsweise des IPCCs) oder aber um vor kurzem veröffentliche Studien in wissenschaftlichen Fachzeitschriften (ausschlaggebend dabei ist, dass die Publikation durch Peer-Review begutachtet wurde). Berichte zwischenstaatlicher Forschungsgremien wie des IPCCs haben den Vorteil, wissenschaftlichen Konsens zu repräsentieren, wohingegen Artikel in Fachmagazinen den Vorteil bieten, jüngste Forschungsergebnisse miteinzubeziehen und somit den neuesten Stand wissenschaftlicher Debatte zu repräsentieren. Beides ist wichtig, um als souveräner Ökohysteriker eine solide Risikoeinschätzung zu gewährleisten.

Erderwärmung bis jetzt

Im Vergleich zu vor-industriellen Zeiten hat sich die Erde bereits um 1.1°C erwärmt (WMO 2019). Diese 1.1°C stellen einen Durchschnittwert zwischen Atmosphäre und Ozeanen dar. In einigen Teilen dieser Welt, wie beispielsweise Deutschland oder Kanada, fällt die bisherige Erwärmung daher bereits höher aus. Die ökologischen Folgen dieser 1.1°C Erwärmung bis dato sind, unter anderem

1. Rasch schmelzendes Gletschereis und Anstieg der Meeresspiegel (WMO 2019, NASA 2018).

2. Erwärmung und Versauerung der Meere. Versauerung passiert, da die Meere übermäßig CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen. Infolgedessen sterben Meereslebewesen wie Korallen, Schalentiere und Fische, von denen sich wiederum andere Lebewesen – wie auch wir Menschen – ernähren.

3. Häufigere und stärker ausfallende Extremwetterereignisse (Herring et al. 2018, WMO 2019). Allein in 2019 haben wir unter anderem folgende Ereignisse erlebt:

  • Die Zyklone Idai und Kenneth in Südafrika, insbesondere Mozambique (ca. 1000 Todesopfer und viele weitere Verletzte), Zyklon Fani in Indien (ca. 34 Todesopfer), Zyklon Bulbul in Bangladesh (ca. 20 Todesopfer), Taifun Hagibis in Japan (ca. 70 Todesopfer), Taifun Kammuri in den Phillipinen (ca. 13 Todesopfer), Hurricane Dorian in der Karibik (ca. 70 Todesopfer, insbesondere auf den Bahamas), etc.
  • Waldbrände in Australien, Brasilien (Amazonas), Indonesien, Sibirien und Alaska, Spanien, Zentralafrika, etc. Die Brände stoßen dabei CO2 aus und vernichten natürliche CO2 Senken (wie beispielsweise Bäume), was zu weiterer Erderwärmung führt. Darüber hinaus töten die Brände Tiere und zerstören deren Lebensraum. Bei den noch wütenden Waldbränden in Australien beispielsweise sind bisher 27 Menschen und schätzungsweise 1 Milliarde (!) Tiere umgekommen (Tendenz steigend). Die Bilder verbrannter Koalas und sich in Angst umarmender Kängurus gehören für mich zu den am schwersten zu verarbeitenden Bildern einer Klimakrise, die erst an ihrem Anfang steht. Australien ist dabei nur ein Beispiel, denn Waldbrände gab es in 2019 massenhaft und weltweit. Detailliertere Daten sowie eine interaktive Karte zu globalen Waldbränden sind hier verfügbar.
  • Rekordhitzewellen weltweit. Laut WMO ist 2010-2020 das heißeste Jahrzehnt, das je gemessen wurde und insofern „außergewöhnlich“. In Indien und Pakistan beispielsweise wurden über Wochen Temperaturen von 45-50°C gemessen. Diese führten zu Hitzetoten und Wasserknappheit. Manche Gegenden mussten mit Wasser beliefert werden (wie jetzt auch in Australien) und es wurde um Wasser gekämpft. In Frankreich beispielsweise wurden im Juni Höchsttemperaturen von 46°C gemessen. Selbst in nördlichen Staaten wie den Niederlanden wurden Temperaturen von bis zu 39 °C gemessen. Auch hier gab es Hitzetote. Insbesondere betrifft dies ältere und immungeschwächte Mitbürger. Ebenso sind tausende unter Massentierhaltung gezüchtete Tiere in niederländischen Ställen gestorben.

4. Bodendegradation und Wüstenbildung (UNCCD 2019, WAD 2018). Hierbei verlieren Böden ihre Fruchtbarkeit/Produktivität und Wasservorräte. Die Folgen sind, wie man sich denken kann, Missernten und infolgedessen Nahrungsmittel- und Trinkwasserknappheit – sowohl für Mensch als auch Tier.

5. Massensterben von Pflanzen- und Tierarten (siehe „Artensterben“).

Artensterben

Wissenschaftler sprechen vom bereits begonnenen „sechsten Massenaussterben“ in der Geschichte unseres Planeten (Ceballos et al. 2017). Das letzte „fünfte Massenaussterben“ fand vor ca. 65 Millionen Jahren statt (unter anderem verursacht durch den Einschlag eines Asteroiden), wobei die Dinosaurier ausstarben. Massenaussterben wird gemessen anhand der Rate des Aussterbens von Pflanzen- und Tierarten. Pflanzen und Tiere sterben auch „natürlich“ aus. Das ist Teil der Evolution („Hintergrundaussterben“). Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass die derzeitige Aussterbensrate mehr als 100-1000fach höher ist als dies natürlich der Fall wäre. Derzeit sind eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht – viele in den nächsten Jahrzehnten schon (IPBES 2019). Das an sich ist schon schrecklich. Hinzu kommt, dass auch menschliches Überleben vom Erhalt der Artenvielfalt abhängt. Der Mensch braucht sie, um sich zu ernähren, saubere Luft zu atmen, Arzneimittel herzustellen – und nicht zuletzt, um sich daran zu erfreuen! Laut Weltbiodiversitätsrat IPBES zerstören heutige Gesellschaften ihre eigenen Lebensgrundlagen – die „Grundlagen unserer Volkswirtschaften, unserer Nahrungsmittelsicherheit, unserer Gesundheit und unserer Lebensqualität“ (IPBES 2019). Das Artensterben ist somit genauso wenn nicht bedrohlicher als der Klimawandel, wobei beide zusammenhängen.

Denn – was treibt dieses Massenaussterben? Laut IPBES Report, sind Hauptursachen für den derzeitigen Extremverlust biologischer Vielfalt in absteigender Reihenfolge:

  1. Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung – z.B. industrielle Landwirtschaft und Urbanisierung. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei der Fleisch- und Milchproduktindustrie zu. 83% der globalen Agrarfläche wird derzeit für die Produktion tierischer Lebensmittel benötigt. Dabei bezieht die Weltbevölkerung nur 18% ihrer Kalorien und 37% ihrer Eiweiße aus diesen Nahrungsmitteln (Poore & Nemecek 2018). Teil der Waldfläche im Amazonas beispielsweise wird gerodet, um dort Agrarfläche für den Anbau von Soja und anderen Tierfuttermitteln zu erschließen.
  2. Direkte Ausbeutung von Organismen – z.B. durch nicht nachhaltige Jagd- und Fischereipraktiken.
  3. Klimawandel – z.B. Ozeanversauerung und Wüstenbildung.
  4. Umweltverschmutzung – z. B. durch Plastik in den Ozeanen oder Pestizide.  
  5. Invasive gebietsfremde Arten – Pflanzen und Tiere, die von Menschen in Gebiete und Ökosysteme verschleppt werden, wo sie nicht hingehören und dort Schaden anrichten.

Humanitäre Auswirkungen

Sowohl Erderwärmung als auch Artensterben sind nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher Zukunftsprognosen sondern passieren bereits jetzt! Dies hat Konsequenzen für Menschen weltweit. Die miteinander verbundenen menschlichen Folgen bisher erwähnter Phänomene sind:

Leider besteht oft eine große Kluft zwischen den Menschen und Ländern, die den Klimawandel und das Artensterben hauptverursachen (gemessen an deren ökologischem Fußabdruck) und den Menschen,  Ländern und Spezies, die derzeit unfreiwillig die Hauptkonsequenzen erleiden müssen! Auch aus diesem Grund nennt sich die derzeitige Klimabewegung oft Klimagerechtigkeitsbewegung („Climate Justice Movement“).

Klimaprognosen

Wissenschaftliche Prognosen für die Zukunft sind erschreckend. Insbesondere Klimaskeptiker führen gerne an, dass wissenschaftliche Zukunftsprognosen ja auf Modellen basieren und daher nicht hundertprozentig gesichert seien. Das stimmt. Allerdings verlassen wir uns in unserem modernen Alltag andauernd auf solche Modelle. Jede KFZ-Tankanzeige ist ein auf empirischen Fakten basierendes Modell, das eine Zukunftsprognose darüber liefert, wann uns voraussichtlich der Sprit ausgeht. Das gleiche gilt für medizinische Diagnosen (z.B. Krankheitsstadien) oder die Wettervorhersage. Klar liegen die manchmal auch daneben. Manchmal ist das Wetter etwas besser als vorhergesagt, manchmal schlechter. Manchmal entwickelt sich eine Krankheit besser als prognostiziert, aber manchmal eben leider auch schlechter. Das Gleiche gilt für den Klimawandel. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bisherige wissenschaftliche Prognosen die Schnelligkeit und Heftigkeit des Klimawandels eher unter- als überschätzt haben! Beispielsweise hatte die Mehrheit wissenschaftlicher Studien bisher prognostiziert, dass der arktische Permafrost in ca. 2090 beginnen würde abzuschmelzen (IPCC 2015). In 2019 jedoch belegte eine Studie von Wissenschaftlern der University of Alaska, dass dieser Prozess bereits jetzt begonnen hat – 70 Jahre früher als erwartet! Und warum ist es so wichtig ob und wann der Permafrost schmilzt? Weil das Schmelzen des Permafrosts mit der Freisetzung weiterer Treibhausgase (wie beispielsweise Methan) verbunden ist, und somit den Klimawandel erheblich beschleunigt (siehe auch Klima-Rückkopplungseffekte weiter unten).

Aber wie steht es nun mit den Prognosen?

In seinem letzten Sonderbericht von 2018 warnt der Weltklimarat IPCC, dass klimabedingte Risiken bei einer globalen Erwärmung von 1,5°C wesentlich geringer einzuschätzen seien als bei einer Erwärmung von 2°C. Der IPCC empfiehlt daher, die globale Erwärmung unbedingt unter 2°C zu begrenzen – und idealerweise bei 1,5°C zu stabilisieren. Dies wurde bei der Pariser UN Klimakonferenz von 2015 als Ziel festgelegt. Nochmal zur Erinnerung – die bisherige Erderwärmung beträgt bereits 1.1°C (WMO 2019). Darüber hinaus ist es so, dass eine längere Zeitspanne vergeht zwischen dem Zeitpunkt, wenn Emissionen ausgestoßen werden, und dem Zeitpunkt, wenn sie ihr volles Erwärmungspotential entfalten (Zickfeld & Herrington 2015). Konkret bedeutet das, dass die Treibhausgase, die wir in den letzten Jahren ausgestoßen haben, ihr volles Erwärmungspotential erst noch entfalten werden. Demnach würde sich die Erde auch noch weiter erwärmen, wenn wir schon morgen CO2-neutral würden. Allein so schon könnten wir die 1,5°C erreichen, oder sogar überschreiten. Hinzu kommt natürlich, dass wir weit davon entfernt sind, CO2-neutral zu werden. Ganz im Gegenteil, anstatt Emissionen zu reduzieren sind globale CO2 Emissionen in den letzten Jahren stetig gestiegen (!) – und das trotz Pariser Klimaziele! Wie steht es um Deutschland in diesem Zusammenhang? Zwar sind CO2 Emissionen in Deutschland in den letzten Jahren nicht gestiegen, jedoch verursacht der durchschnittliche Deutsche fast doppelt so viel CO2 Emissionen wie der durchschnittliche Weltbürger (siehe World Bank Data).

Und wie schätzen Wissenschaftler geht es weiter?

In einer Studie aus 2017 (publiziert in der angesehenen Fachzeitschrift Nature Climate Change) werteten Wissenschaftler statistisch aus, wie sich die Hauptemissionstreiber Pro-Kopf-BIP, Kohlenstoffintensität und Bevölkerungswachstum weltweit entwickeln werden. Die Studie bezieht dabei bestehende politische Maßnahmen zur Emissionsverminderung mit ein! Die Studie kommt zu dem Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, die globale Erwärmung in den nächsten 80 Jahren bei 1,5°C zu begrenzen, derzeit 1% beträgt! Viel wahrscheinlicher ist, dass sich die Erde in den nächsten 80 Jahren zwischen 2,0 und 4,9°C erwärmen wird. Der statisch gesehen wahrscheinlichste Temperaturprognose (der so genannte Median) ist dabei 3,2 °C (Raftery et al. 2017)! Kurz gesagt, wir befinden uns auf einem Erderwärmungskurs der weit darüber liegt, was Wissenschaftler als handhabbares Risiko (unter 2°C) betrachten. Dabei sehen wir nun – bei 1,1°C – bereits verheerende Auswirkungen. All das bezieht einen weiteren Risikofaktor noch gar nicht mit ein – und das ist der Faktor geophysischer Rückkopplungseffekte.

Klimawandel im Dominoeffekt – das Risiko Geophysischer Rückkopplungseffekte

Nebst der Tatsache, dass Menschen und Tiere bereits JETZT unter den Auswirkungen des Klimawandels leiden und sterben, sind Rückkopplungseffekte für mich DAS Argument, warum wir schnellstmöglich – und nicht erst in 2050 – CO2 Neutralität (null Nettoemissionen) erreichen müssen. Rückkopplungseffekte können wir uns vereinfacht als eine Art Mischung zwischen Dominoeffekt und Teufelskreis vorstellen. Das Kippen eines Steins setzt dabei das Kippen des nächsten in Gang, wobei sich Stein für Stein der Effekt beschleunigt. Dabei lässt sich, sobald Stein 1 gekippt ist, das Kippen aller weiteren Steine kaum verhindern. Ähnlich sieht es beim Klimawandel aus. Wissenschaftler schätzen, dass unser globales Klimasystem irgendwo zwischen 1°C und 2°C einen Kipppunkt erreicht (Lenton et al. 2019). Stein 1, der bereits länger wackelt, kippt und setzt somit Stein 2, 3, 4 und so weiter in Gang. Was bedeutet das konkret? Ein gutes Beispiel ist die sogenannte „Eis-Albedo-Rückkopplung“. Globale Erwärmung führt überall auf der Welt zur Eis- und Schneeschmelze – zum Beispiel zum Schmelzen arktischer Eisschilde. Die arktischen Eisschilde wiederum spielen in unserem Klimasystem eine wichtige Rolle, denn sie reflektieren Sonnenstrahlen. Je mehr Eis schmilzt, desto mehr Sonnenstrahlen werden nicht mehr rückreflektiert sondern erreichen stattdessen die Meeresoberfläche, wobei sie Wasser aufwärmen. Das wiederum führt dazu, dass noch mehr Eis schmilzt – und so ist der Teufelskreis in Gang.

Der Eis-Albedo Effekt ist dabei nur einer unter mehreren Rückkopplungseffekten. Hinzu kommen beispielsweise Methanfreisetzung aufgrund schmelzenden Permafrosts, Waldbrände, Wasserdampf, und viele mehr. Nun zum Thema Dominoeffekt: Wissenschaftler schätzen, dass sich verschiedene Rückkopplungseffekte ab einem gewissen (zeitlich nicht weit entfernten!) Temperaturkipppunkt gegenseitig verstärken und sich die Erde so rapide von selbst aufwärmt! Wissenschaftler nennen dieses Szenario einen „Hothouse Earth“ Pfad (siehe Video Stockholm Resilience Centre). Dieser Pfad beschreibt einen „schnellen Pfad zu viel heißeren Bedingungen … einen Weg, der nicht umgekehrt, gesteuert oder wesentlich verlangsamt werden könnte“ (Steffen et al. 2018). Mit anderen Worten: Zurzeit verursachen hauptsächlich Menschen den Klimawandel. Ab einer gewissen Temperaturgrenze erhitzt sich der Planet von selbst – und das eventuell sehr schnell und ohne dass Menschen es aufhalten könnten!

Was bedeuten „heißere Bedingungen“?

Was genau passieren wird im Zuge weiterer Erderwärmung ist schwer vorherzusagen. Eine Studie aus 2017 schätzt eine Erderwärmung zwischen 1,5°C und 3°C als „gefährlich“, eine Erwärmung bis 5°C als „katastrophal“ und eine Erwärmung über 5°C als „unbekannt“ (inklusive „existentieller Bedrohungen für ALLE“) ein (Xu & Ramanathan 2017). Dieselbe Studie schätzt, dass eine Erwärmung von 4°C ungefähr 47% der globalen Landfläche und fast 74% der Weltbevölkerung tödlicher Hitze aussetzen würde. „Tödliche Hitze“ bedeutet in diesem Zusammenhang lebensbedrohliche Risiken für sowohl Menschen als auch Säugetiere, es sei denn massive Anpassungsmaßnahmen würden ergriffen (was wiederum sehr schnell passieren müsste und enorme Ressourcen erfordert). Es hilft sich in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass wir bereits bei einer heutigen Erderwärmung von 1,1°C die Konsequenzen des Klimawandels klar wahrnehmen (siehe „Erderwärmung bis jetzt“, siehe Australien).

Und wie wahrscheinlich ist das alles?

Globale Ökosysteme sind komplex und es besteht ein Risiko, Klimaentwicklungen sowohl zu über- ALS AUCH zu unterschätzen. Wie bereits beschrieben kommen die Wissenschaftlicher Raftery et al. 2017 zu der Einschätzung, dass sich die Erde unter Bedingungen heutiger Klimaschutzpolitik in den nächsten 80 Jahren zwischen 2°C und 4,9°C erwärmen wird. Xu & Ramanathan 2017 berechnen eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die Erderwärmung in den nächsten 30 Jahren (bis 2050) „gefährliche“ Werte von mehr als 1,5°C erreichen wird. Ebenso berechnen sie eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die Erderwärmung innerhalb der nächsten 80 Jahre „katastrophale“ Levels von mehr als 3°C erreichen wird. Für die letzte Risikostufe „unbekannt“ – was „existentielle Bedrohungen für ALLE einschließt“ – berechnen  sie eine Wahrscheinlichkeit von 5%. Letzteres klingt nach wenig, bedeutet aber immerhin noch eine Wahrscheinlichkeit von einem in zwanzig Fällen! Würdet ihr under diesen Bedingunen ein Flugzeug besteigen?

Was wir von den zitierten Studien mitnehmen könnten ist

Flickr. Author: Fresh on the net. CC BY 2.0. Link to source

Menschen, Tiere und Ökosysteme leiden und sterben bereits jetzt an Klimawandel, Ressourcenausbeutung und Umweltverschmutzung. Wissenschaftler betrachten es als plausibel und sogar wahrscheinlich, dass ein Großteil der Weltbevölkerung (und Tierwelt) in den nächsten achtzig Jahren lebensbedrohlicher Hitze ausgesetzt sein wird! Das ist binnen der Lebensspanne heutiger junger Generationen! Das einzige, was diese Entwicklung noch eindämmen kann ist eine sofortige konsequentere und effektivere globale Klimapolitik – und um das zu erreichen ist es Zeit weltweit Alarm zu schlagen!

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