Miriam Meissner
Vortrag im Schiesslhaus AiR, 23 September 2022 – mit herzlichem Dank an Anna-Helena Klumpen und Katrin Savvulidi für die Einladung.

Ich möchte heute mit drei Aussagen beginnen, die Sie möglicherweise nicht vollends überraschen werden. Es geht um Aussagen, die mir wichtig sind, da sie meine Arbeit (und gewisser Hinsicht auch vieles andere in meinem Leben) motivieren.
Die erste Aussage ist, dass wir Menschen – einige von uns durchaus mehr als andere – die Erde gerade schnell und unwiderruflich erhitzen, ihre verschiedenen Ökosysteme zerstören, und somit sowohl das Sterben als auch das Aussterben zahlreicher Tiere, Pflanzen und anderer Organismen verursachen.
Mit anderen Worten: Wir sind mitten dabei, einen ökologischen Zusammenbruch zu verursachen – mit schwerwiegenden Folgen.
Im Folgenden einige Indizien, um meine Aussage zu untermauern:
Zwischen 1970 und 2016 sind globale Säugetier-, Vogel-, Fisch-, Reptilien- und Amphibien-Populationen, die vom World Wildlife Fund überwacht wurden, um durchschnittlich 68% geschrumpft! Mit anderen Worten: Weltweite Tierbestände sind um etwa zwei Drittel geschrumpft – in nur 46 Jahren.
Insektenpopulationen sind noch um ein Wesentliches mehr geschrumpft, was wiederum schlecht ist, da sich andere Tiere von Insekten ernähren, und da Insekten eine Kernrolle in unserer Landwirtschaft spielen.
Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Biodiversität und Ökosystemleistungen IPBES, ein wissenschaftspolitisches Gremium, das regelmäßig ökologische Wissenschaften zusammenfasst und bewertet, kommt zu folgendem Schluss: „Weltweit nimmt die Natur derzeit mit einer Geschwindigkeit ab, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist.“
Hauptfaktoren die dafür verantwortlich sind, sind folgende:
- Abholzung und Entwaldung für Landwirtschaft (insbesondere – d.h. zu 80% – für die Produktion Fleisch- und Milchprodukten, siehe hier für wissenschaftlichen Hintegrund).
- Abholzung und Entwaldung zur Ausweitung menschlicher Siedlungen
- Überfischung und nicht nachhaltige Formen der Jagd auf Tiere
- Klimawandel (klar, das wissen wir)
- Umweltverschmutzung verschiedener Art: Pestizide, Chemieabfälle, Plastik, usw.
- und invasive Arten (von Menschen in Gebiete transportiert, wo sie nicht hingehören und dort Schaden anrichten).
Und das ist natürlich nicht nur ein Problem der Zerstörung der „Natur“ – des großen Anderen, sozusagen. Wie der Vorsitzende des IPBES es ausdrückt: „Wir [d.h. wir Menschen] erodieren [aktuell] die Grundlagen unserer [eigenen] Volkswirtschaften, Lebensgrundlagen, Ernährungssicherheit, Gesundheit und Lebensqualität weltweit.“
Darüber hinaus schaden wir auch unserer Gesundheit. Im Jahr 2015 verursachte allein die Umweltverschmutzung (insbesondere Luftverschmutzung durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe) weltweit etwa 9 Millionen vorzeitige Todesfälle – das ist etwa einer von 6 Todesfällen weltweit (16 %), dreimal mehr Todesfälle als durch AIDS, Tuberkulose und Malaria zusammen, und 15-mal mehr als durch alle Kriege und andere Formen der Gewalt in diesem Jahr. Neuere Studien schätzen diese Zahl sogar noch höher ein.
Was die Statistik jedoch noch nicht beinhaltet sind Verletzungen und Todesfälle, die durch Extremwetterereignisse oder klimabedingten Hunger und Wasserknappheit verursacht wurden.
Denken wir da beispielsweise an:
- Die Flutkatastrophe in Deutschland letztes Jahr – mit mehr als 200 Todesopfern, zahllosen zerstörten Existenzen, usw.
- Die derzeitige Flutkatastrophe in Pakistan, bei der mehr als 1000 Menschen ums Leben gekommen sind
- Oder aber die derzeitige Dürre in Ost-Afrika – selten in den Medien – die mehr als 22 Millionen in Hungersnot versetzt – und das obwohl diese Bevölkerung, wie auch die Bevölkerung in Pakistan, historisch gesehen so gut wie gar nicht zum Klimawandel beigetragen hat.
Aber… genug zu meiner ersten Aussage.
Nun, meine zweite Aussage ist, dass die Maßnahmen, die wir bisher ergriffen haben, um den Klimawandel und Biodiversitätsverlust zu stoppen, im Großen und Ganzen versagen.
Das heißt nicht, dass es keine guten Initiativen gibt, aber – insgesamt, in ihrer Summe, greifen die Maßnahmen, die wir kollektiv bisher ergriffen haben, um ein weites zu kurz.
Im Folgenden wieder einige Beispiele: Im Jahr 2021 kam die Internationale Energieagentur – eine eher konservative Institution, die freundschaftliche Beziehungen zum weltweiten Energiesektor unterhält – zu dem Schluss, dass es keine weitere Entwicklung von Öl, Kohle, Gas mehr geben darf. Mit anderen Worten, die IEA sagt: „Keep it in the ground!“ Keine neuen Erlaubnisse mehr um zu bohren oder zu baggern. Bestehende Vorräte an Öl, Kohle und Gas reichen aus, um die globale Erwärmung – innerhalb der nächsten 80 Jahre, wohlgemerkt – zu verdoppeln, wenn nicht zu verdreifachen. Letzteres wäre, milde gesagt, katastrophal. Und, wie gesagt, wir reden hier über die nächsten 80 Jahre – nicht die ferne Zukunft, nicht erst unsere Enkel oder Urenkel.
Ein UN-Bericht aus dem Jahr 2020 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Dem Bericht zufolge muss die Produktion fossiler Brennstoffe zwischen 2020 und 2030 um etwa 6 % jährlich zurückgehen. In Wirklichkeit nimmt sie jedoch durchschnittlich um 2% pro Jahr zu. Wir bewegen uns noch nicht einmal in die richtige Richtung, geschweige denn schnell genug.
Um diesen Negativtrend zu unterstützen, investieren Regierungen auf der ganzen Welt das monetäre Äquivalent von 6,8 % des globalen Bruttoinlandsprodukts (5,9 Billionen Dollar) in Subventionen für die fossile Brennstoffindustrie. Das sind 11 Millionen für die fossile Brennstoffindustrie, jede Minute des Jahres.
Deutschland investiert laut Umweltbundesamt zurzeit etwa 65 Millionen in umweltschädliche Subventionen – insbesondere übrigens im Verkehr.
Der Krieg in der Ukraine, der an sich schon verheerend ist, macht all das noch schlimmer. In ihren Bemühungen, nach Alternativen zur russischen Energie zu suchen, erhöhen Länder weltweit ihre Investitionen in fossile Brennstoffe und deren Erschließung.
Wie wir wissen ist Deutschland da keine Ausnahme.
— Jetzt aber zur letzten Feststellung, die mich und meine Arbeit motiviert, und die ist: Uns rennt die Zeit davon, um noch wirksam das Ruder herumzureißen.
Laut Weltklimarat IPCC müssen wir die globale Erwärmung unbedingt auf 1.5 Grad begrenzen (und wenn das nicht geht, dann zumindest unter 2 Grad bleiben). Zurzeit sind wir übrigens schon bei 1.1 Grad.
Warum ist der Unterschied zwischen 1.5 Grad, 2 Grad oder gar 3 Grad so wichtig?
Der Grund ist, dass sich negativen Folgen der globalen Erwärmung exponentiell entwickeln. Mit jeder Stelle hinter dem Komma – 1.1. Grad, 1.2 Grad, 1.3. Grad – multiplizieren sich ökologische und humanitäre Probleme um ein Vielfaches.
Um den Klimawandel zu begrenzen, müssen sich – laut IPCC – die globalen Emissionen bis 2030 in etwa halbieren. Bis 2050 müssen wir komplett klimaneutral sein (d.h. nicht mehr ausstoßen als vom Erdsystem, und möglicherweise einigen extra Technologien, wieder aufgenommen werden kann).
Zu diesem Ziel haben sich UN Regierungen in 2015 in Paris verpflichtet. Damals war großes Jubeln angesagt.
Das war vor etwa 7-einhalb Jahren. Und seitdem? Seitdem sind die globalen CO2 Emissionen weiter angestiegen, in 2021 – nach einem kurzen Covid-bedingten Rückgang – ganz besonders. Etwa 7-einhalb Jahre haben wir noch bis 2030. Uns rennt die Zeit davon.
Ein Risiko, das in diesem Zusammenhang bei weitem zu wenig besprochen wird ist das Risiko von Klimakipppunkten – den so genannten „Tipping Points“.
Klimakipppunkte sind vergleichbar mit Dominosteinen. Hat man den ersten gekippt, dann lassen sich die folgenden auch nicht mehr aufhalten.
Im Erdsystem gibt es viele solcher Kipppunkte. Erwärmt sich das Klima bis zu einem gewissen Punkt (meist wissen wir nicht genau wo dieser Punkt liegt – 1,5 Grad – 2 Grad – 3 Grad) – dann kippt das ganze System.
Ab einem gewissen Kipppunkt, zum Beispiel, dann schmelzen nicht nur vereinzelte Eisschilder in der Arktis, sondern das gesamte West-Antarktische Eisschild. Ein Grund dafür ist, dass Eis normalerweise Sonnenlicht reflektiert und somit Erwärmung abwendet. Schmilzt jedoch mehr Eis infolge des menschengemachten Klimawandels, dann gibt es weniger Rückreflektion, mehr Wärme wird vom Ozean absorbiert, und infolgedessen beschleunigt sich die Erderwärmung – und das ganz ohne weiteres menschliches Zutun.
Wissenschaftler nennen das ‘positive Feedback loop’ oder Rückkopplungseffekt. ‘Positive’ bedeutet hier aber nicht wirklich positiv. Es bedeutet, dass sich die Erwärmungsdynamik immer weiter selbst beschleunigt.
Ein weiteres Beispiel für einen solchen Feedback Loop ist abschmelzender Permafrost in Kanada und Sibirien, infolgedessen Treibhausgase wie Methan freigesetzt werden, die wiederum den Klimawandel beschleunigen.
Noch ein Beispiel sind Waldbrände infolge des Klimawandels, die sowohl große Mengen an CO2 Emissionen freisetzen als auch CO2 Senken, wie z.B. Bäume, zerstören, und somit wiederum den Prozess der Erderwärmung beschleunigen.
Wissenschaftlicher fürchten, dass sich diese verschiedenen Klimakippunkte und Feedback Loops irgendwann gegenseitig verstärken und beschleunigen werden. Sie nennen dieses Szenario ‘Treibhaus Erde‘ (im englischen ‘Hothouse Earth‘).
Einmal in Gang gesetzt, können wir die diesen Prozess nicht mehr aufhalten. Wo genau der Punkt liegt, an dem sich das ‚Hothouse Earth‘ selbst in Gang setzt, das wissen wir nicht, aber er könnte schon bei 1.5 Grad liegen. Die wiederum könnten wir schon in den nächsten 10 Jahren erreichen.
Ob die Menschheit ein solches ‚Hothouse Earth‘ überleben kann oder nicht, das wissen übrigens wir auch nicht. Tatsache ist, wir sollten das Risiko gar nicht erst eingehen, und doch tun wir es.
Der UN Generalsekretär Antonio Guterres fasst die Dringlichkeit der heutigen Lage folgendermaßen zusammen:
„Wir stehen am Rande eines Abgrunds. Jeder Tag, an dem wir nicht handeln, ist ein Tag, an dem wir einem Schicksal ein Stück näher kommen, das keiner von uns will.“
Mir persönlich fällt es schwer, diese Dringlichkeit in meinem Alltag – sowohl beruflich als auch privat – auszublenden. Es vergeht eigentlich kein Tag mehr, an dem ich nicht darüber nachdenke.
Eine brennende Frage, die mich dabei ganz besonders beschäftigt ist: Warum versagen wir im Großen und Ganzen darin, diese dringenden Probleme wirksam anzugehen?
Der erste Bericht des Weltklimarats zum Beispiel wurde vor 32 Jahren veröffentlicht, im Jahr 1990. Ich war damals 4 Jahre alt. Seitdem ist einiges an Zeit vergangen. Mehrere UN COPs wurden abgehalten (unter anderem der in Paris). Umweltschutzverträge wurden unterzeichnet. Versprechungen wurden gemacht.
Das Ergebnis? Eine Erhöhung der CO2-Emissionen um mehr als 60%.
Selbst die Weltenergieagentur findet das schockierend. Das Zitat im Hintergrund stammt von deren Website.
Meine Frage ist also nicht nur, warum versagen wir, sondern warum versagen wir seit mehr als 30 Jahren?
Aber bevor ich tiefer in diese Frage eintauche, sollte ich auch sagen, dass „wir“ nicht versagen, denn es gibt kein einheitliches „wir“ (es ist mein Fehler, das Pronomen ‚wir‘ bis jetzt überhaupt verwendet zu haben).
Wie Recherchen der NGO Oxfam kürzlich zeigten: Die reichsten 10 % dieser Welt sind für 50% der globalen CO2-Emissionen verantwortlich.
Umgekehrt sind die Ärmsten 50% nur für 10 % der Emissionen verantwortlich.
Forschungsergebnisse, die vor Kurzem in der Fachzeitschrift Lancet Planetary Health veröffentlicht wurden zeigen, dass der globale Norden historisch gesehen (d. h. gemessen an historisch akkumulierten Emissionen) für 92% der überschüssigen Emissionen verantwortlich ist, die jetzt die globale Erwärmung vorantreiben.
Auf der anderen Seite zeigen Untersuchungen, dass 80% der weltweiten Biodiversität in Gebieten zu finden ist, die von indigenen Bevölkerungen gehandhabt und beschützt werden.
„Wir“ sind also nicht alle gleichermaßen für den heutigen ökologischen Zusammenbruch verantwortlich. Und wir sind auch nicht alle gleichermaßen erfolglos darin, diesem Zusammenbruch entgegenzuwirken.
Was macht also den Unterschied?
Es ist klar, dass es vereinfachend und daher unwissenschaftlich wäre, eine einzige Antwort auf diese Frage zu geben. Es gibt vielerlei Faktoren, die den Unterschied machen.
Ein Schlüsselfaktor scheint jedoch mit der Art und Weise zusammenzuhängen, wie moderne Industrienationen versuchen, ihren Wohlstand zu realisieren und aufrechtzuerhalten – nämlich durch das Wirtschaftswachstum.
Wirtschaftswachstum soll uns allen Wohlstand und Wohlbefinden bringen. Er soll soziale Ungleichheit ausgleichen – die Logik dahinter: Wenn wir den gemeinsamen wirtschaftlichen Kuchen nur groß genug wachsen lassen, dann wird letztendlich ein großes Stück Kuchen für alle dabei herausspringen.
Nun deuten kritische Untersuchungen darauf hin, dass diese Gleichung nie ganz aufgegangen ist – zum Teil, weil Wachstum allein keine gerechte Verteilung garantiert. Zum Teil, weil unser Maß für Wirtschaftswachstum – das Bruttoinlandsprodukt (oder BIP) – nicht wirklich alle Faktoren misst, die uns Wohlbefinden bringen, oder aber wegnehmen. So misst das BIP beispielsweise nicht die Fürsorge und Pflege, die wir als Freunde oder Familie füreinander leisten. Es misst nicht unsere Freizeit. Es misst nicht die Gesundheit unserer Ökosysteme. Es misst keinerlei Freiwilligenarbeit usw. usw.
Aber lassen wir diese Kritik für einen Moment beiseite und konzentrieren uns erst einmal auf die ökologischen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums.
Denn, um Wirtschaftswachstum zu erzielen, brauchen wir Rohstoffe, wir brauchen Land, wir brauchen Energie. Damit zum Beispiel die IT-Industrie wachsen kann, brauchen wir mehr Mikrochips – und dafür brauchen wir mehr Selten-Erdmetalle. Um die wiederum zu erschließen werden Ökosysteme zerstört, wird Wasser verbraucht, werden Böden verseucht. Damit die Tourismusbranche wachsen kann, brauchen wir mehr Verkehrsinfrastruktur, Kraftstoffe und Hotels – also auch mehr Land, mehr Emissionen und – wie immer – mehr Rohstoffe. Damit die Fleischindustrie wachsen kann, brauchen wir mehr Viehfutter und dafür mehr Ackerland – erschlossen, z.B., im brasilianischen Regenwald.
Bisher ging das Wachstum der globalen Wirtschaft daher eindeutig mit wachsender Verschmutzung, mit wachsenden Emissionen, mit wachsender Zerstörung von Ökosystemen einher.
Das, wiederum, ist natürlich ein Dilemma. Es bedeutet, dass die gleiche Strategie, die uns zum kollektiven Wohlbefinden führen soll, gleichzeitig die unverzichtbaren ökologischen Grundlagen unseres Wohlbefindens zerstört. Im Englischen würde man sagen: It’s a catch 22.
Aus diesem Grund haben Industriegesellschaften eine sehr beliebte Idee entwickelt: Die Idee, dass wir durch effizientes Management und smarte Technologien Wirtschaftswachstum von seinen negativen Umweltauswirkungen entkoppeln können – und das ist die Idee des sogenannten “grünen Wachstums”.
Also noch einmal: Die Grundidee des grünes Wachstums ist, dass wir –Industriegesellschaften – durch effizientes Management (wie z.B. den Emissionshandel) und durch smarte Technologien (wie erneuerbare Energien oder Recycling) unser Wirtschaftswachstum von seinen negativen Umweltauswirkungen (wie Land – und Ressourcenverbrauch, Emissionen, Umweltverschmutzung und Abfall) entkoppeln können.
Das haben Industriegesellschaften in den letzten Jahrzehnten wieder und wieder versucht.
Die entscheidende Frage ist nun natürlich: Funktioniert diese Entkopplung?
Und, was noch viel wichtiger ist als solche theoretischen Fragen ist: Funktioniert diese Entkopplung tatsächlich schnell und effektiv genug, um ökologischen Zusammenbruch zu stoppen, bevor es zu spät ist (d.h. bevor wir zu viele Kipppunkte in Gang setzen)?
Ein aktueller wissenschaftlicher Bericht, der vom Europäischen Umweltbüro zu dieser Frage in Auftrag gegeben wurde, gibt folgende Antwort:
“Weder gibt es empirische Belege für die Existenz einer solchen Entkopplung des Wirtschaftswachstum von Umweltbelastungen in annähernd dem Ausmaß, das zur Abwendung des ökologischen Zusammenbruchs erforderlich wäre, noch – und das ist vielleicht noch wichtiger – scheint es als sei eine solche Entkopplung in Zukunft möglich“
Interessanterweise kommt der Weltbiodiversitätsrat IPBES, den ich vorher zitiert hatte, zu einem ähnlichen Ergebnis.
Genauso die Europäische Umweltagentur – eine unabhängige Forschungseinrichtung, die die Europäische Kommission berät.
In internationalen wissenschaftspolitischen Gremien gibt es zunehmend Konsens darüber, dass grünes Wachstum allein nicht funktionieren wird.
– aber was bedeutet diese Einsicht?
Die logische Schlussfolgerung dieser Einsicht ist, dass wir Nachhaltigkeit anders denken und praktizieren müssen.
Um es mit den Worten des britischen Schriftstellers und Aktivisten George Monbiot auszudrücken: „Was zählt, wenn es darum geht, einen gallopierenden Klimawandel abzuwenden, sind nicht (nur) die guten Dinge, die wir nun beginnen zu tun, sondern vor allem die schlechten Dinge, mit denen wir aufhören.”
Anstatt Nachhaltigkeit ausschließlich als effizientes Management und smarte Technologie zu verstehen (die wir zweifellos auch brauchen, keine Frage), müssen wir endlich damit beginnen abzuschaffen was nicht nachhaltig ist.
Im Englischen ergibt das den Satz: Sustainability means unsustaining the unsustainable! Nachhaltigkeit bedeutet, das Nicht-nachhaltige nicht mehr weiterzuführen.
Unsustaining the Unsustainable bedeutet so viel wie: Keine weiteren Subventionen mehr für die fossile Brennstoffindustrie. Das sind jährlich 5,9 Billionen Dollar gespart. Einfach! (naja, nicht ganz, denn gerade diese Industrie hat eine der mächtigsten Lobbys der Welt, aber es sollte einer der ersten Schritte sein – ein Schritt, der theoretisch von heute auf morgen realisiert werden könnte).
Unsustaining the Unsustainable bedeutet auch, das Ideal des grenzenlosen Wirtschaftswachstums aufzugeben (Interessanterweise erwägt sogar die OECD – bisher ein vehementer Befürworter des Wirtschaftswachstums – diese Idee, wie Sie hier sehen können).
In diesem Zusammenhang müssen wir insbesondere umweltschädliche Industrien schrumpfen und umweltschädliche Formen des Konsums, wie beispielsweise das wie Fliegen, tierisches Eiweiß oder aber auch die Kleidungsindustrie (fast fashion) - reduzieren.
Und das ist oft der Punkt, an dem das Thema Unsustaining the Unsustainable etwas unangenehm wird.
Es wird mit Sparmaßnahmen, Askese, den Gürtel enger schnallen assoziiert.
‘Die Leute wollen das einfach nicht!’ – wird mir manchmal gesagt.
Eine weitere, noch etwas ernsthaftere Sorge die mit schrumpfenden Industrien und mit schrumpfendem Konsum – assoziiert wird ist die folgende: Wenn Industrien schrumpfen oder gar verschwinden, dann verlieren Menschen ihre Arbeit, Staaten verlieren ihre Steuereinnahmen, Sozialsysteme gehen pleite, soziale Unruhen entstehen.
Das sind Bedenken, die wir nicht ausblenden dürfen. Das bedeutet aber nicht, dass wir das Projekt Unsustaining the Unsustainable nun ant acta legen sollten. Denn das wäre fatal.
Stattdessen bedeutet es, dass ein Schrumpfen nicht nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten, mit sozialpolitischen Maßnahmen kombiniert werden muss, die die negativen sozialen Auswirkungen dieses Schrumpf-prozesses ausgleichen. Sozialwissenschaftler und Ökonomen nennen das den Übergang in eine Post-Wachstums Gesellschaft (im Englischen ‘degrowth society’).
Um das politisch konkret zu gestalten, haben Wissenschaftler bereits eine Reihe von Vorschlägen entworfen. Diese umfassen, unter anderem
- Die Einführung von sozialpolitischen Maßnahmen, um dem Verlust von Einkommen (und Arbeitsplätzen) entgegenzuwirken. Kernmaßnahmen wären hier das Teilen von Arbeit (beispielsweise durch die Einführung kürzerer Arbeitswochen) sowie auch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Letzteres befürworten derzeit etwa die Hälfte aller Deutschen. In den meisten europäischen Ländern sind es mehr.
- Eine weitere wichtige Maßnahme besteht darin, Aktivitäten zu fördern und besser zu bezahlen, die kollektives Wohlbefinden schaffen oder aufrechterhalten, ohne dabei aber einen massiven ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen. Kultur zählt dazu, Bildung, Gesundheit und Pflege, Kunst, usw. Einige dieser gesellschaftlich hochwichtigen Leistungen – wie beispielsweise Pflege innerhalb der Familie – werden zurzeit so gut wie gar nicht kompensiert, was umso ungerechter ist, da diese Leistungen immernoch oft von Frauen übernommen werden.
- Die Finanzierung einer solchen Politik würde neue Steuermaßnahmen erfordern. Idealerweise würden solche Maßnahmen genau auf die 11 % der Weltbevölkerung abzielen, denen derzeit mehr als 80% des weltweiten Gesamtvermögens gehört (hier Zahlen für Deutschland). Um sich deren Reichtum, und was davon finanziert werden könnte, mal etwas genauer vorzustellen empfehle ich die website Wealth shown to scale.
- Um darüber hinaus noch Steuern einzunehmen und gleichzeitig sicherzustellen, dass der gelegentliche Konsum umweltschädlicher Güter und Dienstleistungen (wie z.B. das Fliegen) nicht zu einem exklusiven Privileg der Superreichen wird, schlagen Forscher eine progressive Besteuerung umweltschädlicher Aktivitäten vor. So wären zum Beispiel die ersten ein bis zwei Flüge pro Person und Jahr relativ erschwinglich. Alles darüber hinaus würde stark besteuert.
Ich würde gerne weitere solcher Vorschläge vorstellen, aber ich muss ja auch noch über Kultur sprechen, und über Kunst.
Was ich Ihnen bis jetzt gezeigt habe, sind Vorschläge, wie man Unsustaining the Unsustainable durch bestimmte Politikmaßnahmen sozial verträglich gestalten könnte.
Es ist eine Antwort auf den Einwand, dass schrumpfende Industrien und schrumpfender Konsum, negative soziale Folgen mit sich bringen.
Aber, es gab da ja auch noch einen anderen Einwand. Den Einwand, dass ‘die Leute’ da einfach keine Lust darauf haben.
Und es stimmt: Wir leben in einer ‘Mehr ist Mehr’ Kultur. Meistens wollen wir alles maximieren, unsere Einkommen, unsere Wohnfläche, unsere Auswahl, unsere Produktivität, usw.
Aus diesem Grund habe ich 2018 ein Forschungsprojekt begonnen – ein Forschungsprojekt zu Lebensstilen, die genau das Gegenteil wollen: Minimieren – so genannte minimalistische Lebensstile.
Minimalistische Lebensstile sind ein Trend in der zeitgenössischen Populärkultur. Sie umfassen, nebst vieler anderer Dinge:
- Selbsthilfebücher zum Entrümpeln des Hauses, des Terminkalenders, und der digitalen Ablenkungen.
- Facebook-Gruppen, in denen sich Mitglieder darüber austauschen, wie man glücklich-genügsam lebt.
- Netflix-Serien darüber, wie man ein sinnvolleres Leben führt, indem man Konsum und Lohnarbeit herunterschraubt.
- Youtube-Videos dazu, wie man ‚Zero Waste‘ (d.h. null Abfall) lebt und reist.
Es gibt viele unterschiedliche Formen des Minimalismus. Was die meisten minimalistischen Lebensstile jedoch eint, ist:
- Dass ihre Befürworter eine Welt des Zuviels beklagen – zu viel Gerümpel, zu viel Stress, zu viel Ablenkung.
- Dass sie die Reduktion befürworten – die Reduktion von Konsum und Besitz, Arbeit und Konkurrenz, Ablenkungen und Verpflichtungen
- Und, dass sie all das nicht in erster Linie tun, weil sie den Planeten retten wollen (oder den Kapitalismus abschaffen), sondern weil sie davon überzeugt sind, dass ‘zu viel’ ihrem eigenen Glück schadet und dass Reduktion ihnen guttut.
- Minimalismus ist für sie also ein eigennütziges, hedonistisches Unterfangen.
Der Grund, warum ich das interessant finde, ist, dass diese Lebensstile einen Gemeinplatz unserer Wachstumsgesellschaft in Frage stellen, und zwar den Gemeinplatz, dass mehr immer mehr ist. Und dass die Leute einfach nicht weniger wollen.
Was ich zuerst herausfand, war, dass Minimalisten bestimmte Nachteile eines hohen Konsumniveaus beklagen – Nachteile, die offensichtlich sind, aber selten so thematisiert werden.
Zum Beispiel:
- Um mehr zu konsumieren, muss man auch mehr arbeiten – während, wenn man weniger konsumiert, in der Lage sein könnte, auch weniger zu arbeiten, und somit auch Zeit für andere Lebensinhalte zu gewinnen, wie z.B. Pflege und Fürsorge, künstlerische Talente, politisches Engagement usw. (natürlich hängt das alles vom Einkommen ab – dazu komme ich gleich)
- Wenn man mehr materielle Dinge besitzt, dann muss man auch mehr lagern und putzen. Vielleicht braucht man sogar ein größeres Haus, was – wiederum – bedeutet, man muss mehr arbeiten oder sich evtl. sogar verschulden. Es gibt auch andere praktische Vorteile: Plötzlich findet man wieder was zum Anziehen, im nicht-mehr-überfüllten Kleiderschrank.
- Wenn man kontinuierlich auf Facebook, Whatsapp & Co herumscrollt, messaged, usw., dann gehen einem möglicherweise andere Lebenserfahrungen & -qualitäten flöten, wie beispielsweise tiefe Konzentration, Körpererfahrung, oder aber das Face2Face Zusammensein mit anderen Menschen.
Nun, vieles davon ist wie gesagt offensichtlich – wenn man darüber nachdenkt – und dennoch wird es in unseren aktuellen Debatten zu Konsum, Wachstum, Wohlbefinden selten angesprochen. Normalerweise ist mehr einfach mehr, und nicht weniger.
Noch interessanter fand’ ich jedoch, dass Minimalisten durch die Praxis und Ästhetik ihres Lebensstils auch gewisse Sehnsüchte zum Ausdruck bringen. Sehnsüchte nach Lebenserfahrungen, die Wachstumsgesellschaften, mit ihrem Drang danach, Nachfrage und Produktivität ständig zu erhöhen, entweder verkümmern lassen, oder gar vernichten.
Beispielsweise drücken viele Formen minimalistischen Lebensstils die Sehnsucht nach resonanteren Beziehungen zur materiellen Welt aus. Mit ‘resonant’ meine ich Beziehungen zur materiellen Welt, bei denen es entschieden nicht darum geht, die materielle Welt zu konsumieren oder zu kontrollieren. Stattdessen geht es darum, sich an diese Welt anzupassen; auf sie zu reagieren; sich mit ihr auszutauschen; sich auf etwas einzulassen, das auf Wechselseitigkeit beruht.
Und was zählt, ist, dass solche resonanten Beziehungen mit der materiellen Welt nicht nur auf einer außergewöhnlichen Basis stattfinden – zum Beispiel als Wochenendwanderung in der Natur – sondern als etwas Regelmäßiges und Alltägliches. Interessanterweise zeigen Forschungsergebnisse, dass das auch der psychischen Gesundheit guttut.
Wenn Sie mehr über diese Idee der Resonanz erfahren möchten, dann empfehle ich Ihnen die Arbeit des Soziologen Harmut Rosa, einer der führenden Postwachstums-Befürworter in Deutschland.
Eine weitere Sehnsucht, die Minimalisten in ihrer Praxis zum Ausdruck bringen, ist die Sehnsucht nach Ruhe, Fokus, Konzentration. Einer Lebenserfahrung, bei der es nicht um Multitasking geht, oder darum und immer „effizient“ zu sein.
Michael Harris, Autor von The End of Absence, drückt es folgendermaßen aus:
‘I wanted a long and empty wooden desk where I could get some real work done. I wanted a walk in the woods with nobody to meet. I wanted release from the migraine-scale pressure of constant communication, the ping-ping-ping of perma messaging, the dominance of communication over experience.‘
Nun, ich könnte jetzt weiter über Sehnsüchte sprechen, aber ich muss zu einem dritten Faktor kommen, der mich an minimalistischen Lebensstilen interessiert – nämlich die Tatsache, dass es für die meisten Minimalisten eben nur um individuelle Entscheidungen geht. Minimalismus ist kein politisches Projekt. Es ist ein Lifestyle-Hack.
Einerseits, macht das minimalistische Lebensstile für mich besonders interessant. Die Tatsache, dass die meisten Minimalisten weder politisch noch ökologisch motiviert sind, macht ihre Erkenntnisse zur Wohlseins-Verbesserung durch Reduktion in gewisser Hinsicht etwas glaubwürdiger.
Und doch ist dieser Individualismus der Minimalisten – ihr Beharren darauf, dass Minimalismus eben nur ein persönlicher Lifestyle-Hack ist – auch ihr größtes Manko, da sie dadurch nicht erkennen, wie viele der Vorteile, die sie mit Minimalismus verbinden, eben nicht für uns alle verfügbar sind.
Wenn ich zum Beispiel minimal konsumieren muss, um über die Runden zu kommen, dann ist Minimalismus kein Lebensstil mehr, sondern eine reine Notwendigkeit. Wenn ich ein ausbeuterisch geringes Einkommen habe, dann wird auch noch so viel Genügsamkeit es mir nicht erlauben, weniger zu arbeiten. Dann brauche ich jeden Cent zum Überleben.
Minimalismus wird sich dann nicht wie eine freiwillige Entscheidung anfühlen.
Die Guardian-Kolumnistin Chelsea Fagan drückt es so aus: „Die einzigen Menschen, die Minimalismus auf sinnvolle Weise ‚praktizieren‘ können, sind Menschen, denen er nicht durch finanzielle oder logistische Umstände aufgezwungen wird.“
Und auch der digitale Minimalismus hat seine Grenzen:
Denn – was ist der Sinn einer ‘digital detox’ (einer digitalen Entgiftung) wenn alle Medien, die heute Standard sind, um mit Menschen in Kontakt zu treten, explizit darauf ausgelegt sind, dafür designt sind, ums uns abhängig zu machen. Denn das ist das ja das Geschäftsmodell von Social Media – sie verkaufen unsere Bildschirmzeit an Werbetreibende. In diesem Zusammenhang ist persönliche Abstinenz ein wertvolles Experiment – klar, warum nicht – aber es kann sich so anfühlen, als kämpfe man gegen Windmühlen, und es wird nicht die Ursache des Problems nicht lösen.
Was wir eigentlich brauchen, ist, dass nicht nur Einzelpersonen, sondern wir – als Gemeinschaften, als soziale Bewegungen und als soziale Institutionen (inklusive Wissenschafts- und Kunst-insitutionen) erkennen, dass Stress, Unordnung und Ablenkung nicht nur persönliche Probleme oder Fehler sind.
Sie werden durch ein Wirtschaftssystem verursacht, das – um Wachstum zu schaffen – kontinuierlich den Umfang und die Geschwindigkeit unserer Nachfrage und Produktivität erhöhen muss. Ansonsten klappt das System zusammen.
Ebenso ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft erkennen, dass Wachstum nicht nur bestimmte Vorteile für unser kollektives Wohlergehen mit sich bringt, sondern auch erhebliche Nachteile.
Und damit meine ich nicht nur, dass Wachstum Ökosysteme zerstört, die für uns lebenswichtig sind (obwohl das schon Grund genug wäre).
Ich meine damit auch, dass uns unsere gesellschaftliche Wachstumsfixierung eine Reihe von Lebensqualitäten wegnimmt, die zwar unverkäuflich und somit unprofitabel sind – aber dennoch für unser Wohlbefinden unerlässlich sind. Dazu gehören Auszeiten und Schlaf, Resonanz und Konzentration, Zeit für Pflege, Erholung, persönliche Entwicklung, usw.
Um diese Lebensqualitäten zurückzugewinnen und gleichzeitig der Ausbeutung von Mensch und Planeten entgegenzuwirken, bedarf es mehr als eines Lifestyle-Trends.
Was wir brauchen, ist eine soziale Bewegung zum Umgestalten der Mittel, mit denen wir, als Gesellschaft, Wohlbefinden schaffen und es messen.
Es gibt eine Reihe zeitgenössischer Initiativen, die genau dieses Ziel vor Augen haben, wie
z.B. die globale Degrowth- bzw. Postwachstumsbewegung.
Die Wellbeing Economy Alliance, bei der es darum geht, Wohlbefinden neu zu bemessen und direkt zu verfolgen – anstatt das indirekt über Wirtschaftswachstum zu versuchen. Mit machen dabei z.B. die Länder Neuseeland, Schottland & Finnland.
Dann gibt es noch Sustainable Prosperity Europe.
Und es gibt natürlich viele Bewegungen für soziale und ökologische Gerechtigkeit, bei denen Unsustaining the Unsustainable eine wichtige Rolle spielt.
Es ist klasse, dass es diese Initiativen gibt – und ich bin dafür, bei ihnen mitzumachen.
Was ich mir für all diese Initiativen jedoch noch zusätlich wünsche, ist dass sie Kultur mehr ins Auge fassen.
Einer der Hauptgründe, warum ich damit begonnen habe, Minimalismus zu erforschen, ist dass ich glaube, dass sich eine dominante Kultur nicht von selbst einfach verwandelt, wenn Wissenschaftler, oder gar Politiker sagen, dass muss jetzt aber.
Mit anderen Worten, ich glaube nicht, dass wir so einfach von heute auf morgen, von einer Wachstums- und Konsumkultur auf eine Postwachstums- und Genügsamkeitskultur um-switchen können.
Und dennoch, uns rennt die Zeit davon. Wir müssen eine kulturelle Veränderung herbeiführen, und das nicht erst Übermorgen.
Wir müssen es irgendwie schaffen, den Übergang von ‘Die Leute wollen das nicht’ zu ‘Die Leute wollen genau das‘ zu beschleunigen.
Aber wie?
In meinem Versuch, diesen Übergang zu denken, stütze ich mich auf die Überlegungen des englischen Kulturtheoretikers Stuart Hall. Der wiederum stützt sich auf die Überlegungen des italienischen Philosophen Antonio Gramsci.
Worauf Hall in seinem Werk aufmerksam macht, ist dass sich kein politisches Projekt nur dadurch durchsetzt, dass es in unserem Interesse liegt.
Klar liegt es in unserem Interesse, unsere ökologischen Lebensgrundlagen und die unserer Kinder zu bewahren. Alles andere ist Selbstmord.
Und dennoch handeln wir in der Mehrheit – in der Summe unserer Handlungen – momentan nicht nach diesem Interesse.
Dass es logisch ist und in unserem Interesse liegt, reicht also nicht, um Postwachstum populär zu machen. Um die Leute davon zu begeistern. Es braucht mehr, aber was.
Hall argumentiert, dass wir sowas brauchen wie ‘Politics as Production‘.
Wenn man also – als Wissenschaftlerin, Politiker, besorgte Bürgerin oder Aktivist, Postwachstum populär machen will, dann muss man sowohl gesellschaftlich als auch kulturell hart daran arbeiten.
Zum Beispiel sollte man die Partikularinteressen einzelner gesellschaftlicher Gruppen mit dem Postwachstumsprojekt verbinden.
- Arbeitnehmer, die sich für eine bessere Work-Life Balance interessieren, könnten für kürzere Arbeitswochen im Rahmen des Postwachstums begeistert werden.
- Pflegekräfte, die mehr Ankerkennung und bessere Bezahlung brauchen, könnten sich für die Förderung von Pflege im Rahmen eines Postwachstumsprojekt interessieren.
- Kreative, die die sogenannte ‘Gig-Economy’ zu Prekarität verdammt, könnten sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen begeistern.
- Eltern die sich um die Zukunft ihrer Kindersorgen, könnten sich für ein Postwachstumsprojekt begeistern – genauso natürlich Jugendliche, die sich um die eigene Zukunft sorgen.
Politics as Production heißt Partikularinteressen verbinden und politisieren.
Politics as Production heißt aber auch, diese politischen Ansätze kulturell, ästhetisch und affektiv auszugestalten.
Mit seinen Schriften, Filmen und Instagram feeds könnte der Minimalismus dafür Futter liefern.
Minimalistische Populärkultur könnte – nebst anderen kulturellen Strömungen – dem politischen Projekt Postwachstum kulturell eine Identität geben – dem Ganzen ein Gefühl verleihen.
Mein Vorschlag ist jedoch nicht, dass Postwachstum unbedingt so aussehen muss, nein. Es geht nicht darum eine homogene Postwachstumskultur zu schaffen. Das wäre wohl etwas gruselig.
Ich stelle mir den Minimalismus als einen von vielen kulturellen Strömungen vor, die dem Postwachstum ein Bilder, Stimmen und Affekte leihen könnte.
Woher könnten die anderen Impulse noch kommen?
Kunst & soziale Bewegungen haben da denke ich einiges zu bieten, könnten eventuell noch mehr bieten.
Im Folgenden ein paar Beispiele.
Das Bild hier stammt von der Website des Nap Ministry, ein Projekt, das 2016 von der Künstlerin & Theologin Trisha Hershey ins Leben gerufen wurde, um Ruhe als kollektiven Widerstand zu praktizieren – also ‚rest as resistance‘. Hershey gibt dazu workshops, publiziert Bücher, stellt den Soundtrack zum kollektiven Ruhe suchen zur Verfügung.
Quellen ihrer Inspiration dabei sind: Black radical thought, somatics, Afrofuturism, womanism, and liberation theology (in Hershey’s eigen Worten).
Ein anderes Beispiel ist dieses Buch hier – How to do Nothing, Resisting The Attention Economy, ein Bestseller aus 2019, von der Künstlerin Jenny Odell (auch auf Deutsch übersetzt).
Auf den ersten Blick denkt man Selbsthilfebuch – viel mehr ist es aber philosophische Reflektion und politisches Manifest.
Ähnlich wie Hershey geht es Odell darum ‘nichts zu tun‘ als eine Form des Widerstands gegen ein System, das von einem fordert, eigentlich ständig connected und produktiv zu sein.
‘Doing nothing‘ heißt dabei nicht wirklich nichts tun, sondern Nichtstun aus Sicht kapitalistischer Wachstumsideologie.
‘Doing nothing‘ heißt für Odell, die eigene Aufmerksamkeit – soweit es uns im Rahmen unserer individuellen Privilegien möglich ist – dem kapitalistischen Wertesystem und dem Zwang der Produktivität zu entziehen.
In Ihren Worten heißt doing nothing ‘resistance in place’: ‘to make oneself into a shape that cannot so easily be appropriated by a capitalist value system. To do this means refusing the frame of reference: in this case, a frame of reference in which value is determined by productivity, the strength of one’s career, and individual entrepreneurship. It means embracing and trying to inhabit somewhat fuzzier or blobbier ideas: of maintenance as productivity, of the importance of nonverbal communication, and of the mere experience of life as the highest goal. It means recognizing and celebrating a form of the self that changes over time, exceeds algorithmic description, and whose identity doesn’t always stop at the boundary of the individual’ (Odell 2019, p. xvi)
Dabei belässt Odell es jedoch nicht. Doing nothing bedeutet für sie auch, die Aufmerksamkeit, die man an der einen Stelle gespart hat, an der anderen Stelle wieder ‘einzupflanzen‘ – und zwar im öffentlichen Raum, und im biophysischen Raum (also, vereinfacht gesagt, in der Natur).
Sie selbst setzt sich dafür in den Park und beobachtet Vögel oder aber sie führt längere Gespräche, auch mit Menschen anderer politischer Auffassung.
Worum es ihr geht: Zum einen geht es ihr um deep listening – tiefes Zuhören – also darum aktiv wahrzunehmen und Aufmerksamkeit zu schenken. Zum anderen geht es ihr darum, wieder besser wahrzunehmen, dass wir eben nicht individuell-isoliert in der Matrix leben, sondern dass wir physisch, biologisch und auch sozial mit anderen verbunden sind und von anderen abhängig sind – sowohl von Menschen, also auch von Tieren, Pflanzen, Mikroorganismen, usw.
Vorletztes Beispiel: Das hier ist die sozial-ökologische Bewegung Extinction Rebellion (kurz XR) – mit ihrer Subgruppe Fashion Rebellion.
Was machen die da?
Eine Modenschau. Eine Modenshow, die zweierlei Ziele hat. Zum einen soll sie ein Ritual unserer Konsumgesellschaft – den Black Friday – stören und Unterbrechen. Auf den enormen ökologischen Fußabdruck der Fashionindustrie aufmerksam machen.
Zum anderen geht es auch darum, Alternativen aufzuzeigen. Alle Kostüme dieser Show sind, selbstgemacht, aus recycelten Materialien. Dazu trifft sich die Gruppe regelmäßig und näht zusammen.
Inspiration dafür finden sie unter anderem bei der Fashion Designerin Orsola de Castro. In ihrem Buch Loved Clothes Last spricht sich de Castro dafür aus, Kleidung so lange wie möglich zu tragen und dabei kreativ zu sein.
Inspiration dafür liefern Punk, moderne Kunst, japanisches Wabi Sabi, usw. Anleitungen zum nähen und reparieren gibt es auch.
Letztes Beispiel: Was sie hier sehen ist eine ‘adbusting‘ oder ‘Brandalismus‘ Kampagne der Anti-Kohle Bewegung Ende Gelände. Das sind die, die in Deutschland immer wieder den Kohletagebau besetzen – im gewaltlosen zivilen Ungehorsam.
Interessant an adbusting ist ist, dass man es nicht direkt als solches erkennt.
Das gilt auch für diese Kampagne hier, in Paris in 2015, was auch in der Zeit des VW Abgasskandals lag.
Während es aber unwahrscheinlich ist, dass VW ein solches Poster – ‘Es tut uns leid, dass wir erwischt wurden‘ – herausbringt, ist das Poster ‘So sehr wie wir Hunger bekämpfen müssen, so sollten wir das Wirtschaftswachstum begrenzen‘ eigentlich gar nicht so abwegig. Es zeigt uns eine Zukunft, wie sie sein könnte. Eine Zukunft, in er Regierungen sich für das einsetzen, was eigentlich im Interesse ihrer Bürgerinnen und Bürger und deren Nachkommen liegt.
So gesehen ist das Poster dann nicht nur Brandalismus, sondern auch spekulative Zukunft bzw. ‘Real Utopia‘. Sie spielt uns vor, wie es sein könnte, wenn wir tatsächlich ein ‘Ministerium für Systemwandel’ hätten (wie auf dem Poster simuliert). Wie es sein könnte wenn wir tatsächlich den politischen Willen dazu hätten, das Unnachhaltige nicht mehr aufrechtzuerhalten, und das dann sozialpolitisch umsetzen würden.
Ich persönlich bin händeringend auf der Suche nach weiteren solcher Impulse.
In Zeiten der Dringlichkeit wünsche ich mir eine kulturelle Politik die
- einerseits, Widerstand leistet. Nicht mitmacht, soweit das möglich ist. Und das idealerweise im Kollektiv.
- Zum anderen wünsche ich mir eine kulturelle Politik, die durch Kunst, Populärkultur und soziale Bewegungen die Vorstellungskraft anregt, Lust auf einen echten Wandel macht – und dass hoffentlich bevor es zu spät ist.
Ich hoffe, ich konnte einige von Ihnen heute davon überzeugen, dabei mitzumachen, wenn Sie es nicht schon tun.
Danke.